Er lebt nicht mehr, unser Sohn Christian.
Getötet von einem anderen Menschen.
Zwei Männer kommen.
Sie sagen, Christian sei erschossen worden.
Wir sind zu Hause – allein,
jeder in einem anderen Zimmer.
Wir streiten uns nicht,
wir gehen uns aus dem Weg.
Was bleibt uns von Christian?
Ein Bild- 5 Tage alt,
seine Sachen.
Später werden die Menschen sagen:
„Was wollt ihr denn damit?
Er ist doch schon so lange tot“!
Es kommt der Pfarrer.
Er versucht, uns zu trösten.
Später gelingt es ihm nicht mehr.
Ich bin zu schwierig.
Mein Mann hält es mir vor.
Wir streiten uns.
Was bleibt uns von Christian?
Sein Lachen.
Später werden wir merken, dass es verblasst.
Gestern ging es mir gut.
Heute ist meine Seele krank.
Die Menschen sagen: „Wieso bleibt sie zu Hause.
Man sieht ihr doch keine Krankheit an“
Was bleibt uns von Christian?
Seine Stimme.
Später werden wir merken, sie wird immer leiser.
Christian wird obduziert.
Niemand hat es uns gesagt.
Niemand hat uns etwas erklärt.
Wir erfahren es aus den Fernsehnachrichten.
Es ist still bei uns.
Glückliche Tage
Was bleibt uns von Christian?
Sein Geruch.
Später werden wir merken,
er wird immer schwächer.
Die Rechtsmediziner sagen,
sie fühlen sich als letzte Retter der Opfer.
Später werden wir wissen,
die Obduktion dient dem Schutz der Täter.
Was bleibt uns von Christian?
Ein leerer Körper mit sichtbaren Narben.
Später werden die Menschen sagen:
„Er ist doch in euren Herzen“.
Wir wissen, dass Christian
Kartoffeln und Erbsen zuletzt gegessen hat.
Wem nützt es?
Wir streiten nicht,
denn wir wissen, dass die Obduktion sinnlos war.
Wir sollen Weihnachten verreisen.
Die Menschen sagen, dass sei besser so.
Ich will nicht, ich möchte zum Grab gehen.
Wir streiten uns.
Was bleibt uns von Christian?
Der Zettel im Portemonnaie
mit seinem Weihnachtswunsch.
Wir fahren zum Gericht.
Es ist Verhandlungstermin.
Viele tragen Schuld an seinem Tod.
Nur einer wird verurteilt.
Sind die Entscheidungen gerecht?
Mein Mann betrachtet das Urteil sachlich, ich emotional.
Wir streiten uns.
Was bleibt uns?
Der Kampf gegen die Behörden,
der Kampf gegen die Justiz,
der Kampf gegen die Ungerechtigkeit
die Albträume
die Fragen ohne Antworten.
Christian bat mich,
ihn nach dem letzten Dienst
am Samstag vom Bahnhof abzuholen.
Ich freute mich darauf.
Am Mittwoch ist er gestorben.
Ich ging am Samstag nicht auf den Bahnhof.
Mein Mann sagte:
„Er lebt doch nicht mehr“.
Was bleibt mir?
Ich fühle Schuld.
Seinen letzten Wunsch habe ich nicht erfüllt.
Wir streiten.
Später werde ich wissen,
es wäre wichtig gewesen,
zum Bahnhof zu gehen.
Die Menschen werden dass nicht verstehen.
Sie denken sachlich.
Was bleibt uns von Christian?
Ein Fahrplan im Schubkasten
und die Bitte, ihn abzuholen.
Seine Sachen.
Später werden die Menschen sagen:
„Ihr müsst euch endlich davon trennen“!
Warum?
Die Menschen sagen:
„Ach rede doch mal über etwas anderes“.
Meine Stimme wird still.
Stille Menschen können nicht streiten.
Doch, auch Stille ist Streit!
Was uns bleibt von Christian:
Sein Bild.
Er ist 19 Jahre, 2 Monate und 3 Tage alt geworden.
Christian bleibt immer jung,
denn Tote werden nicht alt.
Sollen wir Leipzig verlassen?
Den Ort, wo wir 19 Jahre, 2 Monate und 3 Tage
mit Christian gelebt haben?
Ob ein Umzug uns helfen könnte?
Wir streiten uns.
Später werden wir wissen:
Christian ist mit uns umgezogen.
Das Bild, seine Sachen, der Streit, die Stille,
alles ist wieder bei uns angekommen.
Was uns bleibt:
Fragen über Fragen und keine Antworten:
Hatte er Schmerzen?
Musste er leiden?
Hat er gemerkt, dass er sterben muss?
Wie ist das, wenn man stirbt?
An wen hat er gedacht?
Was fühlt man,
wenn ein Geschoss den Körper durchbohrt?
Hat er uns Eltern und seinen Bruder geliebt?
Hätte er es geschafft, Pilot zu werden?
Was uns bleibt:
Die Frage der Oma,
warum sie nicht für ihn hat sterben dürfen.
Sie sei doch alt?!
Es ist viel Zeit vergangen.
Nur ganz wenige Menschen haben den Mut,
uns zuzuhören, uns zu begleiten.
Die Stille ist uns geblieben und der Streit
und das Bild, 5 Tage alt,
seine Sachen,
der Fahrplan,
die Fragen …
… und die Sehnsucht !
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