Uns als Eltern interessierte natürlich, ob nach dem Urteil Herr F. der dort festgelegten Arbeitsauflage nachgekommen war, welche Arbeiten ihm durch das Jugendamt zugewiesen wurden und mit welcher Sorgfalt er diese erfüllt hat.
So erreichte uns im Dezember 1999 sein Brief.
Darin berichtete er uns, dass ihm vom zuständigen Jugendamt eine Stelle bei einem örtlichen Altenheim vermittelt wurde. Auf Nachfrage erfuhr er, dass es sich dabei hauptsächlich um hausmeisterliche Tätigkeiten handeln würde, er aber lieber mit Menschen gearbeitet hätte. So entschloss sich Herr F., selber eine Stelle zu suchen. „ Ich habe mich dann entschieden, für das Rote Kreuz als Betreuer auf eine 3-wöchige Ferienmaßnahme für schwerst- und mehrfach behinderte Jugendliche und junge Erwachsene mitzufahren und mich um die Teilnehmer zu kümmern“….“Auch wenn ich durch diese Freizeit weit mehr als die geforderten 100 Sozialstunden abgeleistet habe, bereue ich es nicht, da ich denke etwas sinnvolles getan zu haben und vor allem gelernt habe, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen“…
Dass Herr F. sich selbst um eine andere Arbeit gekümmert hat, spricht für sein gewachsenes Verantwortungsbewußtsein. Der Preis dafür war zu hoch.
Im Sommer 2004 habe ich – als Mutter – Herrn F. einen Antwortbrief geschrieben. Wer ihn lesen möchte, hier ist er:
„Was ein Morgen ist, wird nur der wissen, der die Nacht durchhielt“.
Wie, wann, wo…. soll ich bei diesem Brief anfangen?
Wie soll ich beginnen?
Ich denke, der obige Spruch,
Herr F.
Ist die richtige Wahl. Er trifft auf uns Beide gleichermaßen zu.
Wann:
Wann ist der richtige Zeitpunkt für diesen Brief gekommen?
Das zu beantworten ist sehr schwierig. Es hängt so sehr von meinen Gefühlen ab. Ich denke oft an Sie, im Guten, aber auch im weniger Guten. So reißen mich meine Gefühle immer noch hin und her und genauso oft habe ich den Zeitpunkt zum Schreiben verschoben.
Aber ich glaube auch, dass Sie auf ein paar Worte von mir warten. Wäre ich in Ihrer Situation, wäre es so.
Wo soll ich nun anfangen?
Zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass wir wissen, dass nicht nur Sie allein die Verantwortung am Tod von Christian tragen. Eine Verkettung vieler unglücklicher Umstände führte zu dieser Katastrophe. Und unser einziges persönliches Zusammentreffen im Amtsgericht Walsrode habe ich immer wieder vor Augen. Ich empfand Mitleid mit Ihnen. Aber es war auch von Wut, Enttäuschung, Angst, Hilflosigkeit und Mißverständnis begleitet.
Die damals ausgesprochene Strafe erschien mir so ungerecht. Ein junger Mensch – mein Sohn – ist gestorben. Vielleicht können Sie meine Gefühle als Mutter von Christian verstehen.
Dann jedoch erhielten wir Ihren ausführlichen Brief. Ich habe ihn mit wachsender Achtung gelesen. Und ich bin froh, dass sie selbst nach einer eigenen Lösung gesucht haben. Die Arbeit mit behinderten Menschen erfordert viel Kraft, Verständnis, Mut Toleranz und andere wichtige Eigenschaften. Ich denke, Sie haben dabei viel Gutes getan.
Wie es Ihnen heute geht, weiß ich nicht. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Ihr Weg, wie meiner, von Tiefen und Höhen begleitet ist. Wir müssen wahrscheinlich noch viel Geduld mit uns selbst haben.
Und ich wünsche uns, dass unsere eigenen Familien auch die nötige Geduld mit und für uns aufbringen können.
Ich hoffen, dass Sie Ihre Ausbildung abgeschlossen und eine gute Arbeit gefunden haben. Vielleicht haben Sie inzwischen auch eine eigene Familie. Möge sie immer zu Ihnen halten.
Ich würde Ihnen gerne verzeihen, aber es gelingt mir noch nicht. Mit diesem Zwiespalt kämpfe ich sehr oft. Meine Gefühle sind immer noch von einem ständigen „Auf und Ab“ begleitet. Ich möchte es bald als „innere Zerrissenheit“ beschreiben.
Das Schwere ist manchmal so einfach, zu erledigen. Man muss es nur tun.
Ich bin froh, dass ich Ihnen heute diese Zeilen schreiben konnte.
Renate Stöbe
Großpösna, 23.07.2004