Am 25.02.1999 fand die Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichtes Walsrode statt. Ein zweiter Verhandlungstag war am 02.03.1999 vorgesehen. Insgesamt sollten 24 Zeugen vernommen werden.
Wir als Eltern waren als Nebenkläger zugelassen und nahmen mit unserem Rechtsanwalt an der Verhandlung teil. Presse und Fernsehen waren vor Ort.
Fast alle im Gericht befindlichen Bundeswehrangehörige bemühten sich, keinen Kontakt mit uns herzustellen.
Während des ersten Verhandlungstages zeigte sich, dass die Sachlage eindeutig war. Bis zu diesem Zeitpunkt waren 7 Zeugen vernommen worden und das Gericht verzichtete auf weitere Vernehmungen. Ein Soldat, der als Zeuge vorgeladen war und nun nicht mehr vernommen wurde, äußerte, für mich hörbar, sein Unverständnis darüber.
Für ihn war die „verlorene Zeit“ und die entstandenen „Kosten seiner Anreise“ (er arbeitete zum damaligen Zeitpunkt in Brüssel) offensichtlich wichtiger, als die Aufklärung des Todes unseres Sohnes.
Gegen 17:00 Uhr erfolgte am gleichen Tag die Urteilsverkündung.
Nach Beweiserhebung kommt das Gericht zu folgender Begründung (Auszug):
Der Angeklagte hat sich damit der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB schuldig gemacht.
Bei gehöriger Überlegung hätte der Angeklagte ebenso wie die Zeugen F.und B., welche im 5. Rennen die Kampfstandbesatzung 5 bildeten, erkennen können und müssen, daß er sich nicht im Kampfstand befindet, sondern erst die Warteposition erreicht hat.
Ihm wäre sodann aufgefallen, daß eine Waffenauflage in Form von Sandsäcken nicht vorhanden war, man noch keine Brücke passiert hatte, an der man zudem noch von einem Sicherheitsgehilfen abgeholt werden sollte. Insbesondere wäre dem Angeklagten klar geworden, dass, anders als beim Tagschießen und in der Belehrung des Zeugen B. für das Nachtschießen ebenfalls ausgeführt, sich kein Sicherheitsgehilfe bei ihnen befand, man sich also noch gar nicht im eigentlichen Kampfstand befinden konnte. Auch mußte ihm aus der Belehrung durch den Zeugen B., die in groben Zügen durch den Zeugen U. wiederholt worden ist, bewußt sein, daß es sich bei der in Höhe des Feldwebel D. eingenommenen Position um die Warteposition handelt und man erst auf weitere Anordnung aus dieser Position geradeaus in einen 50 m entfernten Kampfstand geführt wird.
Auf den heranwachsenden Angeklagten war wegen Reifeverzögerungen Jugendstrafrecht anzuwenden.
Bei den zu ergreifenden Maßnahmen mußte zugunsten des Angeklagten eine Ansammlung von Unzulänglichkeiten auf seiten des Ausbildungspersonals bei Durchführung des Nachtschießens berücksichtigt werden. In Abweichung von den Nr. 403 und Nr. 620 der Besonderen Anweisungen für die Ausbildung der Luftwaffe sind die Soldaten vor Durchführung des Nachtschießens nicht mit Blick in das Zielgelände eingewiesen worden und es erfolgte zugleich auch keine Einweisung vor Eintritt der eingeschränkten Sicht. Die Einweisung durch den Zeugen B. auf dem Antreteplatz bzw. die nachfolgende grobe wiederholende Einweisung durch den Zeugen U. in wartender Position vermochten den Soldaten keine Anhaltspunkte für das Nachtschießen zu bieten, zumal kaum ein Soldat während des Tagschießens Gelegenheit hatte, den Bereich der Warteposition und Kampfstände des Nachtschießens zu betrachten. Auch muß bei den an das Ausbildungspersonal zu stellenden Anforderungen erhöhend berücksichtigt werden, daß es sich um das erste Nachtschießen der Kompanie handelte und es sich insoweit also um ungeübte Schützen handelte. In diesem Zusammenhang ist auch gegen den in Nr. 405 der Besonderen Anweisungen für die Ausbildung der Luftwaffe enthaltenden allgemeinen Grundsatz für ein Gefechtschießen verstoßen worden, wonach kein Zeitdruck aufzubauen ist und ein ruhiges und konzentriertes Umsetzen des Auftrages bis zum Schießende sicherzustellen ist. Bei einer letztlich verbliebenen Zeit von etwa 13 Minuten pro Rennen für das Nachtschießen, nachdem sich nach Wecken um 03:00 Uhr das Tagschießen von 08:00 bis 15:30 Uhr bei Temperaturen stattgefunden hatte, die sich abends dem Gefrierpunkt näherten, drängt sich ein solcher Verstoß auf. Weiter ist festzuhalten, daß die Bundeswehr aus einem gleich gelagerten Vorfall aus dem Jahr 1992 in Schwarzenborn keine Konsequenzen gezogen hatte. Wenn denn eine Meldung „Kampfstand belegt“ des Nachts nicht erfolgen sollte, hätte doch dafür Sorge getragen werden müssen, daß nach Munitionserhalt und spätestens nach Einweisung durch die Zeugen D. und B. in die Warteposition die sich in der Warteposition befindlichen Soldaten sämtlich unter Aufsicht befanden. Auch wenn zugleich gegen die Nr. 704 der Besonderen Anweisungen für die Ausbildung der Luftwaffe verstoßen wurde, wonach bei Gefechtschießen bei Nacht die Soldaten auf Brust und Rücken je ein gelbes Tuchdreieck tragen, ist insoweit festzuhalten, daß durch die Beweisaufnahme weiterhin fraglich ist, ob solche Dreiecke auf der gegebenen Entfernung überhaupt zu erkennen gewesen wären.
Auch wenn durch die Tat des Angeklagten tragischerweise ein Mensch ums Leben gekommen ist, führen diese Gesamtumstände letztlich dazu, daß eine Schwere der Schuld im Sinne des § 17 JGG nicht festgestellt werden kann und somit schon aus diesem Grund die Verhängung einer Jugendstrafe gegen den Angeklagten ausgeschlossen ist. Um eindringlich und nachhaltig auf den Angeklagten entsprechend dem Grundgedanken des Jugendstrafrechts erzieherisch einzuwirken, war es daher erforderlich, aber auch ausreichend, gegen ihn bei gleichzeitiger Erteilung einer Verwarnung eine Arbeitsauflage von angemessen 100 Stunden zu verhängen.
Die Kostenentscheidung beruht auf§§ 465 Abs. l, 472 Abs. l Satz l StPO.
Wie laufen die Momente nach einer Urteilsverkündung für die Betroffenen ab?
„Der Angeklagte ist der fahrlässigen Tötung schuldig. Er wird verwarnt und hat nach Weisung des für ihn zuständigen Jugendamtes eine Arbeitsauflage von 100 Stunden zu erfüllen……“ – kann das ein gerechtes Urteil für den Tod eines jungen Menschen sein?
Was ist mit den anderen Beteiligten?
Was ist mit denen, die die Vorschriften nicht rechtzeitig geändert haben?
Wir hörten dieses Urteil.
Der Richter las es vor und v e r s c h w a n d .
Zwei Offiziere der Bundeswehr verabschiedeten sich von uns und v e r s c h w a n d e n .
Die anderen Soldaten v e r l i e ß e n das Gericht sofort nach der Urteilsverkündung.
Unser Rechtsanwalt verabschiedete sich mit den Worten: „Danke, das sie mich ausgewählt haben…“
und v e r s c h w a n d .
Ein Zeitungsreporter bat uns um ein Bild von Christian, verabschiedete sich und v e r s c h w a n d .
Fernsehen und Presse v e r s c h w a n d e n , denn die neuesten Nachrichten mussten ja noch gesendet bzw. gedruckt werden.
Der Gerichtswachtmeister stand bereits mit dem Schlüssel hinter uns und w a r t e t e d a r a u f ,
d a s s a u c h w i r v e r s c h w a n d e n .
An diesem Tag ist Christian für mich ein zweites Mal gestorben – ganz langsam.
So standen wir beide allein in der kalten dunklen Februarnacht vor dem Amtsgericht Walsrode und gingen stumm und frierend zu unserem Auto. Ca. 400 km Fahrstrecke lag vor uns und ich, Renate, brach in einen schrecklichen Weinkrampf aus. Ich war hilflos überfordert und nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Danke sage ich hier meinem Mann, der die Kraft hatte und uns wohlbehalten nach Hause brachte. Wir erreichten Leipzig gegen Mitternacht.
Liebe Leser !!!!!!!!!!!
Wenn Sie einmal in eine ähnliche Situation kommen, dann wünschen wir Ihnen, dass Sie Menschen finden mögen, die Ihnen in diesem Moment beistehen. Menschen, die Sie begleiten, die Sie ggf. fahren, die in Ihrer Nähe sind, wenn Sie sie benötigen. Denn nichts ist schlimmer, als das Gefühl zu haben, allein gelassen zu werden.
Wir wussten vorher nicht, was uns erwartet und ob wir Hilfe brauchen würden.
Der Tag danach
Mir war es nicht möglich, an diesem Tag zur Arbeit zu gehen. Ich musste einen Arzt aufsuchen.
Dank der modernen Medien, waren Berichte über die Verhandlung schon im Abendprogramm des 25.02.99 gesendet worden. Die Zeitungen berichteten am Morgen darüber.
Auf meinem Weg zum Arzt begegneten mir bereits Menschen, die ihr Unverständnis über dieses „milde Urteil“ äußerten. Und im Wartezimmer beim Arzt las ein Mann den druckfrischen Beitrag der Bild-Zeitung seiner Frau laut vor. Er ahnte nicht, dass ihm die Mutter des getöteten Soldaten gegenüber saß.
Wie ein roter Faden zogen sich diese Fragen, dieses Unverständnis, die nächste Tage durch unser Leben.
„Warum haben Sie dieses Urteil zugelassen? Es ist ungerecht. Das ist doch viel zu milde. Man könne so etwas doch nicht zulassen. Dagegen müsse man Rechtsmittel einlegen … Wieder seien nur die „Kleinen“ bestraft worden“ – so hieß es immer wieder uns gegenüber. Ich, Renate, hatte plötzlich das Gefühl, ich sei an dem Verhandlungsergebnis, diesem „milden“ Urteil schuld.
Was wir damals noch nicht wussten. Mit der Zulassung als Nebenkläger im Verfahren erreichten wir, dass überhaupt eine Verhandlung stattfand. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft hatte in Erwägung gezogen, das Verfahren einzustellen.
Caspar David Friedrich: „Friedhof im Schnee“
Enttäuschung, Wut, Verzweiflung, Unverständnis und Stille über das Urteil und die Ereignisse, die zum Tod von Christian führten, luden die Menschen, die ihn kannten, bei uns ab. Wir waren einerseits froh über diese Resonanz, aber andererseits auch völlig überfordert. Warum habt Ihr nicht bei den zuständigen Organgen protestiert? Wir konnten alleine auch nicht mehr erreichen. Uns ist nur ein Protestbrief, gerichtet an die Bundesrepublik, bekannt. Ein Fliegerkamerad von Christian schrieb ihn.
Am Vormittag des 26.02.99 packte mich eine unendliche Sehnsucht nach Christian. Ich, Renate, hatte schwere Schuldgefühle. Mein Weg führte mich auf den Friedhof zu seinem Grab. Es war ein grauer Februartag, grau und dunkel wie meine Seele. Schneematsch bedeckte die Wege und die Gräber.
Ich stand bei meinem Sohn und sagte: „Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für Dich tun konnte. Du warst immer ein Kämpfertyp und nicht unterzukriegen. Ich habe versagt. Verzeih mir“.